Sittlichkeit als generationelles Projekt?
Kultureller „Schmutz“ im Kaiserreich (1885-1914)Angesichts einer zunehmenden öffentlichen Präsenz des Sexuellen im Kulturbereich um 1900 hatten Empörungen über vermeintlich „schmutzige“ kulturelle Erzeugnisse Hochkonjunktur. Solche Erzeugnisse, die man als sexualmoralisch anstößig befand, entdeckten Zeitgenossen allerorts in malerischen Kunstwerken und Skulpturen, in der naturalistischen und fin de siècle-Literatur, auf Postkarten oder Aktbildern, im Theater und im Kino, in Schlagern, Tingeltangelnummern und Witzblättern. Das mit großer Akribie betriebene Aufspüren von kulturellem „Schmutz“ durch selbst ernannte christliche Sittlichkeitskämpfer und die damit einhergehende Erregung über das Nackte waren wiederum Anlass für massiven Widerspruch und Widerstand von Akteuren, die die vorgenommenen Grenzziehungen als zu eng befanden. Kultureller „Schmutz“ wurde von allen Beteiligten als Übel definiert, die Frage hingegen, wo der „Schmutz“ begann und wo er aufhörte, machte den Kultursektor zu einem heiß umkämpften Feld von Akteuren, die als generationelle Sprecher auftraten.
Das Projekt schreibt entlang der drei Analysekategorien Geschlecht, Religion und Generation die Geschichte dieser konfliktreichen und hoch emotionalisierten Auseinandersetzungen über „schmutzige“ kulturelle Erzeugnisse, die eine große Zahl von Teilöffentlichkeiten wie die Tagespresse, staatliche Behörden und den Reichstag beschäftigten und somit eine Vielzahl von Menschen in Atem hielten.