Proletarischer Mythos und realer Sozialismus. Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse in der DDR 1953-1989/90
Politischen Mythen kam eine zentrale Rolle bei der Legitimierung der kommunistischen Herrschaft in der DDR zu: Dass "zum Arbeiter das Gewehr" gehöre, war eine zentrale Prämisse der "letzten Revolutionäre" (Catherine Epstein), die ihre politische Sozialisation im 'latenten Bürgerkrieg' der Weimarer Republik erfahren hatten. Aus dem Untergrund zu höchster Macht im ersten 'Arbeiter-und-Bauern-Staat' der deutschen Geschichte gelangt, blieben sie zeitlebens einem konspirativem Verhaltenskanon treu, der unter dem Stichwort 'revolutionäre Wachsamkeit' auch für jeden einfachen 'Werktätigen' verpflichtend sein sollte. Der proletarische Mythos, wie er sich in den 1953 gegründeten Kampfgruppen der Arbeiterklasse verkörperte, verschleierte deshalb nicht allein die fehlende demokratische Legitimation des SED-Regimes, sondern reflektiert zugleich die generationsspezifischen Erfahrungen seiner Gründerväter, die sich zu einer lebenslangen "obsessiven Hochschätzung" (Ute Frevert) quasi-militärischer Organisation und Stärke verbanden.
'Front' und Verpflichtung, Alltag und 'Ausnahmezustand', fielen beim 'Aufbau des Sozialismus' vielfach zusammen und verlangten von allen 'Werktätigen' strengste Disziplin und absolute Hingabe. Vor diesem Hintergrund kam den Angehörigen des "unmittelbar bewaffneten Organs der Arbeiterklasse" - wie die Kampfgruppe auch genannt wurden - eine Vorbildrolle zu, vereinigte sich in ihnen doch "der Werktätige als Haupttriebkraft im Prozess der materiellen Produktion und der politische Soldat, der bereit ist seine geschaffenen Werte mit der Waffe zu verteidigen". Während sich Sicherheit auf den 'Kommandohöhen' der Macht - um mit Carl Schmitt zu sprechen - stets von der Ausnahme her definierte, wurde an der Basis der "durchherrschten" Gesellschaft (Alf Lüdtke) darunter vor allem die Sicherheit geregelter Arbeits-und Alltagsbedingungen verstanden. Konflikte zwischen zivilen Betriebsangehörigen und "Kämpfern", zwischen 'Wirtschafts'- und 'Parteifunktionären', wie auch zwischen lokalen Orientierungen und zentralistischen Vorgaben verweisen auf das spannungsgeladene, lebensweltliche Setting des Betriebes - gewissermaßen der Ort der DDR-Gesellschaft -, in dem sich mannigfaltige Interessen vermengten und überlagerten. Weiterhin wirksame Milieuzusammenhänge gaben ebenso wie lokalspezifische Traditionen und Werthaltungen den Ausschlag für oder gegen eine Unterstützung der Kampfgruppen im sozialistischen Alltag und verweisen damit auf individuell-biographische "Erfahrungsräume" (Reinhart Koselleck), vor denen die Botschaft des Proletarischen Mythos eine eigensinnige Deutung und Wandlung erfuhr.
Mythen leben von einem nachvollziehbaren Gegenwartsbezug: Schien im Herbst 1989 die Stunde ihrer Bewährung gekommen, beschwor die "friedliche Revolution" jedoch ein Paradox herauf, an dem das 'unmittelbar bewaffnete Organ der Arbeiterklasse' schließlich zerbrechen sollten: Nominell den Werthaltungen des 'Untergrundes' verpflichtet, versammelten sich in ihnen - faktisch eine Massenorganisation - jedoch die Werthaltungen der (mehr oder weniger) 'offenen Gesellschaft' (Elias Siberski). Ihre Verortung im betrieblichen Alltag der "heilen Welt" des Realsozialismus rückte die kompromisslosen Vorgaben von 'oben' in ein Spannungsverhältnis zum gewohnheitsmäßigen Verhältnis der Menschen zur Politik 'unten': schon vor dem Herbst 1989 hatte sich in den staatssozialistischen Gesellschaften eine gegenüber Rollen- und Machtrücksichten emanzipierte Praxis "hautnaher Beziehungsarbeit" etabliert, die weit stärker von 'warmen' individuellem Verhandlungsgeschick und Kompromissbereitschaft als von einer 'kalten' Politik des 'Alles oder Nichts' geprägt und getragen war (Wolfgang Engler). Das rituelle Bekenntnis zur Gewalt war vor diesem Hintergrund nurmehr zum Symptom einer zunehmenden "Unwirklichkeit des Realen" (Engler) geworden - Ausdruck einer politischen Agenda, die noch in den 1920er Jahren verwurzelt war und wenig Sinn besaß für die Realität und Probleme des realsozialistischen Alltages.
Fragestellung und Erkenntnisinteresse des laufenden Dissertationsprojektes ergeben sich aus der Debatte um "Herrschaft und Eigen-Sinn" (Thomas Lindenberger) in der SED-Diktatur. Die Konzeption des Proletarischen Mythos vermag dazu beizutragen, Zugangswege zur Geschichte der Gesellschaft in der DDR zu eröffnen, die nicht in dem aufgingen, was die politische Avantgarde einseitig intendierte und trägt der Forderung Rechnung, keine Gesellschaftsgeschichte "with politics left out" zu schreiben, sondern das spezifische Zusammenspiel von diktatorischer Gesellschaftskonstruktion, der Beharrungskraft tradierter Strukturen, den Anforderungen der Industriegesellschaft und den ungeplanten Strukturen und Prozessen sozialen Handelns in der DDR zu untersuchen.
„Die verlorene Generation“. Überlegungen zum Verhältnis von Gewalt und Generationsbehauptung am Beispiel der ersten Kriegsjugendgeneration
Die Forschung ist sich weitestgehend einig, dass die Angehörigen der „Kriegsjugend-Generation“, gerade weil sie zu jung gewesen waren, um noch im Ersten Weltkrieg zum Einsatz zu kommen, sich vor allem dadurch auszeichnen, die Angehörigen der ihnen vorangegangenen „Frontkämpfer-Generation“ in ihrem gewalttätigen Einsatzwillen zu überflügeln. Beiden Generationen wird jedoch ein gemeinsames Selbstverständnis unterstellt, das in der Übernahme einer heroisch konnotierten „Grundaufgabe“ bestand, deren Aneignung und Radikalisierung Michael Wildt in seinem Portrait einer „unbedingten“ Generation auf den Begriff zu bringen versucht hat.
Georges Bataille hat in den frühen 1930er Jahren in seiner kulturkritischen „Aufhebung der Ökonomie“ den Begriff der „Verausgabung“ geprägt hat, der auf einem quasi-anthropologisches „Interesse an erheblichen Verlusten und Katastrophen“ gründet, das, so Bataille, „orgiastischen“ Zuständen einhergehe. Betrachtet man die Biographien verschiedener Aktivisten wie Ernst von Salomon und dessen Bruder Bruno (Jg.1900), Hubert von Ranke (1902), Richard Scheringer (Jg. 1904) und Bodo Uhse (Jg. 1904) – die allesamt dem Milieu rechtsradikaler Wehrverbände entstammten, sich später jedoch den Kommunisten anschlossen (Scheringer/Uhse), im Spanischen Bürgerkrieg und/oder in der französischen Resistance (Salomon/Ranke) aktiv waren – scheinen solch orgiastische Zustände von nicht unerheblicher Faszination für die ,endemische‘ Gewaltpraxis im „europäischen Bürgerkrieg“ der Moderne gewesen zu sein – (Selbst-)Zeugnisse wie Salomons „Die Geächteten“ oder Bronnens „O.S.“ zeigen ihn als grenzenloses (mithin erotisches) „Reich der Freiheit“. Die Gewalttat gerät in der wissenschaftlichen Diskussion jedoch zumeist erst dann in den Fokus des Interesses, wenn sie als kollektiver Ausdruck „für etwas anderes“ betrachtet wird. Dabei hatte schon Helmuth Plessner bemerkt, dass die Radikalität jener ,verlorenen‘ Generation „jede Revolution begrüßt und doch zu keiner mehr gepasst hätte“, weil sie, so Plessner, „im Unterschied zum Erneuerungswillen ihrer Väter die Gegensätze von rechts und links in einem politisch fassbaren und fruchtbaren Sinne, im Sinne von Beharrung und Fortschritt bereits hinter sich gelassen hatte“ (Die Legende von den zwanziger Jahren, in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Günter Dux, Bd. 6: Die verspätete Nation, Frankfurt a. Main 1982, S.264). Aber lässt sich vor diesem Hintergrund noch sinnvoll von einer Generation sprechen? Und wenn ja, wie ist das „Unbedingte“, das Ihnen zugeschrieben wird, zu verstehen?
Indem das Projekt sich auf die Rekonstruktion der Erfahrungsperspektiven von Gewaltpraxis im „europäischen Bürgerkrieg“ der Moderne konzentriert – zu diesem Zweck sollen zeitgenössische Tagebücher, Briefe und andere Selbstzeugnissen herangezogen und ausgewertet werden, um anhand der Selbstinterpretationen, wie sie in solchen Quellen zu finden sind, herauszuarbeiten, in welcher Art und Weise die Aktivisten ihre radikalen Erfahrungen in die eigenen Lebenslaufkontinuität einordneten und in welcher Form sie sich dabei des Modus einer vermeintlichen Generationenerfahrung bedienten bzw. sich von ihm abgrenzten – nimmt es Fragen auf, die zum programmatischen Erkenntnisinteresse des Kollegs zählen. Wird das „Problem der Generationen“ (Karl Mannheim) gemeinhin als Problem emphatischer Vergemeinschaftung interpretiert, gewinnt mit dem „Waldgang“ – Ende der 1940er Jahre, also nach dem Ende des „europäischen Bürgerkrieges“ der Moderne von Ernst Jünger verfasst – ein „kaltes“ Moment existentieller Besinnung an Bedeutung, die das Individuum nicht mehr notwendigerweise innerhalb eines sozialen Kollektivs verortet. Das Projekt will sich deshalb den heterogenen und isolierenden Aspekten der Gewalterfahrung im „europäischen Bürgerkrieg“ der Moderne widmen, um auf diese Weise auch der Frage nachzugehen, ob eine grundlegende Folge dieser Auseinandersetzung nicht in der Entwertung jeglicher Gemeinschaftsgefühle bestand. Als Ausgangspunkt der generationellen Selbstverortung dieser Jahrgänge erscheint dann möglicherweise weniger die gemeinsame Gewalt-Prägung als vielmehr die Interpretation und Artikulation der jeweils individuellen Gewalterfahrungen im Modus einer Generationsrede während und nach dem Krieg. Die Generationenrede lässt sich dabei möglicherweise als ein Kommunikationsmodus begreifen, mit dessen Hilfe die eigenen Gewalterfahrungen in ihrer Bedeutung normalisiert und in den sicheren Rahmen einer vermeintlichen Gemeinschaftserfahrung eingeordnet werden konnten. Im Rekurs auf die Gewalttat als spezifisch historischem Signum des „Zeitalters der Extreme“ soll erkundet werden, wie die Generationszugehörigkeit historisch und kulturell jeweils verhandelt wurde, unter welchen Bedingungen „Generationalität“ als Generationsbewusstsein wirksam werden konnte und welche Bedeutung der „Generationalisierung“ als Anspruch auf politische wie emotionale Zugehörigkeit zukam.