Dass im europäischen Roman des frühen 19. Jahrhunderts die seit der Aufklärung stetig fortschreitende Problematisierung von Tradition häufig in Form einer individuellen Bildungs- und Entwicklungsaufgabe berührt wird, mag vor dem Hintergrund der gleichzeitigen Konjunktur kollektiver generationeller Vergemeinschaftung als Paradoxon erscheinen.
Das literaturwissenschaftlich-kulturgeschichtliche Forschungsprojekt versteht die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert im europäischen Bildungs- und Entwicklungsroman behandelte Autonomisierung individueller Lebensgestaltung jedoch als eine Bedingung der Möglichkeit moderner generationeller Neuvergemeinschaftung.
Unter Bezugnahme auf Reinhardt Koselleck wird die als eine »Verzeitlichung der Biographie« verstandene Bildungs- und Entwicklungsthematik als ein zentraler Moment in der Genese moderner Generationalität verstanden.
Anhand von kanonischen Entwicklungsromanen der deutschen, französischen und russischen Literatur soll dieses Phänomen partiell in seiner europäischen Reichweite und Variation untersucht werden.
Mit kulturgeschichtlichem Bezug zum vielschichtigen Wert-Diskurs des 19. Jahrhunderts wird das Generationsproblem zunächst als eine Werteproblematik verstanden. Die literaturwissenschaftliche Untersuchung differenziert daran anschließend zum Einen anhand spezifischer Figurenkonstellationen in den Romantexten verschiedene Wertemodelle. Zum Anderen widmet sich ein erzählanalytischer Teil der Frage, wie unterschiedliche Rezeptionen von gesellschaftlicher Tradition sich in verschiedenen Zeitperspektiven, die die Bezüge zur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft individuell und doch in gewissem Maße auch exemplarisch ordnen, niederschlagen.
Die Problematik der Heldenfiguren, Traditionsfragmente eklektisch neu zu ordnen und gleichzeitig aus synchron aufgefächerten Wertekatalogen der Elterngeneration auszuwählen, wird dabei als literarische Reflexion der Möglichkeit zur Neuvergemeinschaftung in generationellen Kontexten im langen 19. Jahrhundert gesehen.